Die wichtigsten Ergonomie-Tipps rund um den MTB-Sattel
Die zehn Sitzgebote

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Was tun bei Sitzbeschwerden, wie finde ich den richtigen Sattel? MountainBIKE beantwortet die zehn drängendsten Fragen der Leser und gibt Tipps für mehr Spaß am Biken.

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Foto: Angel King

1. Es gibt viele Sättel, doch die meisten sehen sich ziemlich ähnlich. Gibt es denn einen Unterschied zwischen MTB- und Rennradsätteln?

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Angel King
Dr. Kim Alexander Tofaute, Sportwissenschaftler mit den Schwerpunkten Ergonomie, Gesundheit und Komfort. Der frühere Bike-Pro , 24h-MTB-Vize-Weltmeister und Lehrbeauftragte der Deutschen Sporthochschule Köln kennt die Bedürfnisse von Bike-Sportlern nicht nur aus der Fachliteratur.

Die Unterschiede zwischen den Satteltypen beruhen auf den fahrtechnischen Anforderungen der jeweiligen Bike-Disziplin. Während Rennradsättel vorwiegend für eine eher statische Sitzposition konzipiert sind, bieten spezielle Mountainbike-Sättel dem Fahrer viele verschiedene Sitzbereiche. Neben der Hauptsitzposition mit Belastung der Sitzbeinhöcker ist eine breitere Sattelnase für Mountainbike-Sättel, wie etwa beim Ergon SMC3, vorteilhaft. Darauf kann der Biker in steilen Anstiegen sitzen, um ein Steigen des Vorderrads und Traktionsverlust auf Schotter zu verhindern.

Der Übergang zwischen der Sattelnase hin zum hinteren Sitzbereich fällt auch etwas breiter aus und bietet eine weitere Sitzposition. Dazu sollte die gesamte Sitzfläche flach gestaltet sein – nur dann können die verschiedenen Sitzbereiche genutzt werden. Zudem ist die Kontur des Hecks bei einigen Bike-Sätteln abgeflacht, um eine Verlagerung des Körpergewichts auf den hinteren Sattelrand und ein schnelles Rutschen hinter den Sattel in sehr steilen Passagen zu ermöglichen.

2. Haben Profi-Biker die gleichen Sitzprobleme wie Hobbyfahrer, oder sind Profis besser an langes Sitzen auf dem Bike gewöhnt?

Dr. Kim Tofaute: "Natürlich sind Sitzbeschwerden sehr individuell, aber Cross-Country-Fahrer beispielsweise haben eher weniger Probleme, da sie mit viel Druck fahren, sehr aktiv und dynamisch. Davon können auch Hobbyfahrer lernen: Wer seine Position auf dem Bike zwischen normalem Sitzen, Wiegetritt und dem frontlastigen Sitzen in Kletterpassagen variiert, beugt Sitzbeschwerden vor und fährt auch schneller.

So werden auch die Sitzbeinhöcker nicht einseitig belastet. Wer immer im kleinsten Gang den Berg hinaufkurbelt, kann die Sitzbeinhöcker auch durch Wechseln in einen größeren Gang entlasten, da die Beine dann einen Teil des Körpergewichts tragen. Profis wiegen aber meist auch weniger, weshalb die Sitzzone nicht so viel Druck abbekommt."

3. Was bringen die verschiedenen Grundformen der Satteldecke?

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MountainBIKE
MountainBIKE Sattel-Profile

Sättel mit gerade geformter Sitzfläche geben den Sitzbeinhöckern wenig Halt. Der Druck tritt hier punktuell auf und führt oft zu Sitzbeschwerden. Eine minimale Überwölbung der Satteloberfläche (konvexe Form) kann den Sitzkomfort hingegen deutlich steigern. Denn der geneigten Form der Sitzbeinhöcker steht auf einem leicht konvexen Sattel eine größere Kontaktfläche als auf einer völlig ebenen Satteldecke zur Verfügung.

Zudem kann das hintere, unempfindlichere Weichteilgewebe auch als Sitzbereich und Dämpfungspuffer verwendet werden. Sättel mit einer auch im Dammbereich extrem überwölbten, konvexen Satteldecke erhöhen den Druck im Genitalbereich hingegen stark und erschweren zudem, das Körpergewicht auf die Sitzbeinhöcker zu verlagern. Um den Sitzbeinhöckern Halt zu geben, müsste ein solcher Sattel sehr breit konstruiert werden. Der Vorteil stark überwölbter Sättel ist, dass sie dem Biker durch ihr schlankes Profil viel Bewegungsspielraum lassen.

Sättel mit einer konkav gewölbten Satteldecke sollen den gesamten mittleren Weichteilbereich entlasten. Eben geformte Stufensättel mit einer tiefen Mulde im Dammbereich sowie Sättel mit einer bis zum Sattelrand reichenden Aussparung zeigen dieses Profil. Der Druck im Bereich der Sitzbeinhöcker ist hier ebenfalls hoch und punktuell. Die fehlende mittlere Sitzzone kann bei Stufensätteln zu einem nach vorn kippenden Becken und einer wackeligen Sitzposition führen. Bei all ihren Nachteilen können Stufensättel dennoch für "Problemsitzer" eine Alternative sein.

4. Ist eine dicke Polsterung der Sitzfläche in jedem Fall komfortabler als eine dünne Polsterschicht?

Dr. Kim Tofaute: "Grundsätzlich gilt: Eine Polsterung ist wichtig für den Sitzkomfort. Sie optimiert die Druckverteilung, absorbiert und dämpft Stöße. Bei der Sattelentwicklung haben vergleichende Druckanalysen gezeigt, dass die Stützkraft des Polstermaterials entscheidend für den Komfort des Sattels ist. Die Sitzbeinhöcker sollten nicht zu tief einsinken, um zu starken Druck auf das Weichteilgewebe zu vermeiden.

Ergon etwa verwendet Polsterschäume mit geschlossenen Mikro-Luftkammern. Diese Schäume bieten eine dauerhaft starke Rückstellkraft, dämpfen progressiv und verhindern ein Durchsitzen auf die harte Sitzschale – selbst auf langen Strecken und bei starken Stößen. Die Vertiefungen in der patentierten 3D-Sitzschale ermöglichen einen Schaumaufbau im Sitzbeinbereich von 17 Millimetern. Das ist sehr viel im Vergleich zu anderen Sportsätteln und sorgt für Komfort. Der Schaum ist aber nicht weich wie Gel, sondern wirkt dämpfend, was ein tiefes Einsinken der Sitzbeinhöcker verhindert. Die gleichmäßige Verteilung des Drucks und das Abdämpfen von Erschütterungen bleibt durch diesen ‚Federweg‘ aber erhalten."

5. Wäre der perfekte Sattel nicht ein Gesäßabdruck als Maßanfertigung?

Da beim Mountainbiken häufig wechselnde Sitzpositionen eingenommen werden, sind Maßsättel für dynamisches Biken im Gelände eher ungeeignet. Der Grund: Sie sind meist für eine Hauptsitzposition optimiert und entsprechend geformt. "Bei den Ergon-Sattelmodellen kommen progressiv dämpfende Schäume zum Einsatz", erklärt Sattel-Expertin Janina Haas. "Durch seine besondere Dämpfung passt sich der Schaum an der Basis-Position dem Druck der Gesäßknochen fast schon wie ein Maßsattel an und erlaubt zudem ein leichtes Einsinken der Sitzbeinhöcker. Das funktioniert aber auch an jeder anderen Stelle des Sattels, wodurch dem Gesäß an den verschiedenen Punkten eine gute Kontaktfläche und Druckverteilung geboten wird, ohne dass man zu stark einsinkt und – wie bei zu weichen Schäumen – nach kurzer Zeit auf der harten Sattelschale sitzt."

6. Sind die anatomischen Unterschiede von Männern und Frauen so stark, dass beide Geschlechter spezielle Sättel benötigen?

Dr. Kim Tofaute: "Bei unseren Messungen war der durchschnittliche Sitzbeinhöckerabstand der Frauen ein Zentimeter breiter als bei den Männern. Die Schambeinbögen der Frauen stehen jedoch in einem anderen Winkel. Je flacher die Frau auf dem Rad sitzt, desto kleiner wird der Unterschied zu den Männern. Mit einem geschlechtsspezifischen Sattel kann man die Bedürfnisse von Frauen wie die Beckenform, das Weichteilgewebe und die empfindlichere Haut besser berücksichtigen. Auch das geringere Körpergewicht der Frauen verlangt nach einer anderen Polsterung, da der Durchschnittsmann bei Pro-Racern etwa 15 bis 20 Kilo mehr wiegt. Ein spannendes Thema für die zukünftige Sattelentwicklung."

7. Wie wichtig ist der Sitzbeinhöckerabstand für das Finden des passenden Sattels, und was bedeuten die Breitenbezeichnungen?

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MountainBIKE
Die App „Saddle Selector Online“ ermittelt anhand der Eingabe mehrerer Daten den passenden Sattel.

Der durchschnittliche Sitzbeinhöckerabstand liegt etwa bei 11,5 cm, die meisten Biker liegen zwischen 10 und 14 cm. Abweichungen davon sind selten. Da die Sitzbeinhöcker enorm wichtig für eine stabile Position des Beckens auf dem Sattel sind, sollte die nutzbare Breite des Sattels unbedingt zum Sitzbeinhöckerabstand des Bikers passen. In der Regel misst die absolute Breite des Sattels (Abstand der Sitzflächenränder) zwei bis drei Zentimeter mehr als der Sitzbeinhöckerabstand. Sättel mit Breitenangaben in Millimetern können sich auf die absolute oder nutzbare Breite beziehen.

"Die Breitenangaben der Ergon-Sättel sind nach den Größen S, M, L eingeteilt und auf der Packung sichtbar nach dem Sitzknochenabstand aufgeschlüsselt. Das ist wichtig, denn der Abstand der Vertiefungen in den Sattelschalen ist abhängig von der jeweiligen Sattelbreite", erklärt Sattel-Ergonomin Janina Haas. Die Spanne reicht bei einem komfortorientierten MTB-Sattel wie dem Ergon SMC3 von 9–11 cm Sitzbeinhöckerabstand (small) über 11–13 cm (medium) bis zu 13–15 cm (large).

8. Ist es sinnvoll, die Sattelnase am Bike abzusenken, um Druckbeschwerden im Damm- und Genitalbereich zu reduzieren?

Das Absenken der Sattelspitze kann Druckspitzen im Genitalbereich beheben, sollte jedoch nur im Bereich von wenigen Millimetern erfolgen. Senkt man die Sattelnase zu stark ab, kippt das Becken Richtung Tretlager und eine ruhige, stabile Tretposition ist nicht mehr gegeben. Grundsätzlich ist eine horizontale Positionierung des Sattels in vielen Fällen die beste Lösung.

Fully-Fahrer aufgepasst! Eine Sattelposition, die beim Einstellen per Wasserwaage noch absolut horizontal war, kann sich nach dem Aufsitzen auf das Bike durch das Eintauchen der Federelemente (Sag) verändern. Achten Sie daher darauf, dass der durchs Eigengewicht verbrauchte Hub an Gabel und Dämpfer prozentual übereinstimmt.

9. Wo nichts ist, kann nichts drücken. Worin bestehen die Vor- und Nachteile der mittlerweile recht verbreiteten Lochsättel mit Aussparung in der Sattelschale.

Dr. Kim Tofaute: "Aus universitären Messungen mit diversen Lochsätteln wissen wir, dass die Durchblutungssituation im Genitalbereich hier besser ist. Je größer das Loch, desto besser die Durchblutung. Druckprobleme im Bereich der Lochkanten verstärken sich jedoch gleichzeitig. Die Durchblutung wird vom hohen Druck an den Lochrändern zwar nicht beeinträchtigt, aber als sehr unangenehm oder sogar schmerzhaft empfunden, da das Weichteilgewebe stark komprimiert wird. Zudem können starke Reibung oder Druckgeschwüre des Weichteilgewebes die Folge sein, wenn das Loch zu groß dimensioniert ist", erklärt Tofaute. Der beste Kompromiss aus Loch und komfortablem Randbereich sei daher eine kanalförmige, schmale Aussparung, die den hohen Druck an den Rändern durch eine breite Auflagefläche verhindert.

10. Ich habe schon zig verschiedene Sättel ausprobiert, aber immer noch nicht den richtigen gefunden. Was mache ich falsch?

Bevor Sie einen Sattel nach dem anderen kaufen, lohnt sich ein Check der folgenden Punkte: Ist Ihre Sattelhöhe korrekt eingestellt (siehe Bike-Fitting)? Viele Probleme rühren von einem zu hohen oder zu tiefen Sattel, wodurch das Becken auf dem Sattel hinund herrutscht. Biken Sie versuchsweise mit einer anderen Polsterhose, denn auch der beste Sattel kann eine Bibshorts mit knittrigem oder zu weichem Polster nicht kompensieren.

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Erscheinungsdatum 02.04.2024