Schwer in Ordnung?
Im Test: Zehn Enduros ab 6099 Euro

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Brachial. Monströs. Gewaltig. Die Enduros des Jahrgangs 2022 schlagen in Sachen Gewicht und Bergab-Performance alles je Dagewesene. Damit definiert sich die Kategorie allerdings neu.

Highend-Enduro Test
Foto: Manfred Stromberg

🏆 Die Gewinner auf einen Blick

  • Der Mountainbike-Testsieg geht an das Canyon Strive CFR und überzeugt mit genialem Handling, brillianter Bergab-Performance und perfektem Fahrwerk.
  • Das GT Force Carbon Pro LE sichert sich den Kauftipp, dank seiner soliden und stimmigen Austattung, dem stabilen Hinterbau und der extra Portion Spielfreude.
  • Der zweite Kautipp geht an das Scor 4060 LT GX. Das Bike kommt mit einer modernen Geo, einem exzellent performanden Fahrwerk und einer guten Austattung.

Highend-Enduros/ Link zum Testbericht

Preis

Gewicht

Testergebnis

Canyon Strive CFR

6299 €

15,7 kg

Überragend

GT Force Carbon Pro LE

6099 €

15,8 kg

Sehr gut

Scor 4060 LT GX

6299 €

15,2 kg

Sehr gut

Rocky Mountain Altitude C70

7599 €

14,8 kg

Sehr gut

Santa Cruz Megatower GX AXS RSV

9199 €

15,4 kg

Sehr gut

Simplon Rapcon XX! Eagle AXS (Option)

9069 €

15,2 kg

Sehr gut

YT Capra Uncaged 6

8999 €

14,9 kg

Sehr gut

Specialized Kenevo SL COMP

7900 €

19,1 kg

Sehr gut

Scott Ransom 900 Tuned AXS

9499 €

13,8 kg

Gut

Norco Range C2

7999 €

17,4 kg

Gut

Was ist das krass! Selten hat uns ein Biketest so geflasht wie dieser. Teilweise standen wir schlicht sprachlos (und atemlos) am Ende unserer Teststrecke. Wobei das Staunen schon viel früher losging. Nämlich als wir die Testräder an unsere Kern-Waage hingen. Kurz überlegten wir, einen Seilzug zu bauen, um uns nicht den sprichwörtlichen Bruch zu heben. Worum geht es überhaupt? Nein, nicht um bleischwere, billige Baumarkträder – sondern um die aktuelle Generation von Highend-Enduros mit Federwegen von 160 bis 170 mm, 29"-Laufrädern und generell maximal hoher Bergablastigkeit – doch dazu später mehr. Neun renommierte Hersteller von Canyon bis YT folgten unserer Testeinladung, dazu gesellte sich mit dem ikonischen Light-E-Enduro Kenevo SL noch ein "Special(ized) Guest".

Highend-Enduro Test
Manfred Stromberg
Love is in the air. Unser Testfahrer Thomas „Prof“ Schmitt lässt auch schwergewichtige Enduros luftig-leicht aussehen.

Den hohen Anspruch, den wir an das Testfeld stellten, spiegeln die Preise wider. Los geht’s erst bei knapp über 6000 Euro, das Ende der preislichen Fahnenstange liegt jenseits der 9000-Euro-Marke – der nächste Schock, zumal bei vielen Herstellern immer noch Luft nach oben ist. Dafür gibt es natürlich unisono Carbon- Rahmen. Und lediglich am GT sind die Heck-Streben aus Alu, sonst gilt auch da: Kohlefaser pur. Zudem strotzen die Konstruktionen, aber auch teils die Parts nur so vor technischer Finesse, die den Bikes vor allem Vielseitigkeit einimpfen soll. Eine Aufzählung: Vier der neun Kandidaten bieten ein Flip Chip zur Geo-Anpassung, bei zwei Bikes sind die Kettenstreben variabel einstellbar, bei einem Rad ist der Reach per Steuersatzschale verstellbar, zwei Bikes (Canyon und Scott) kommen mit kompletten Vario-Geometrien, die sich vom Lenker aus anwählen lassen, am Scor finden sich zwei Anlenkpunkte für das Federbein. Staufächer im Unterrohr gibt es dreimal, dazu Funkschaltungen (dreimal), Funk-Vario-Stütze (einmal) und am YT sogar ein vollelektronisch geregeltes Fahrwerk. Puh! Auch an den Hinterbauten lässt sich viel entdecken und staunen, so setzen GT und Norco auf eine "High-Pivot"-Kinematik mit extrem hoch angesetztem Drehpunkt, was für ein maximal sensibles Einfedern sorgen soll. Gleichzeitig führt eine Umlenkrolle die Kette durch diesen Drehpunkt, wodurch sich das Heck beim Pedalieren weit auseinanderzieht (um bis zu 25 mm!) und damit strafft. Bei Santa Cruz und Scor wiederum betten "Lower-Link"-Kinematiken Dämpfer und Linkage äußerst tief ins Bike, um einen niedrigen Schwerpunkt zu erhalten. Canyon und Scott trumpfen nicht nur mit besagten Vario-Geos auf, parallel dazu ändert sich auch das Fahrwerk. Bei Scotts "Traction-Control"-System geschieht dies innerhalb von Dämpfer und Gabel durch Sperren einer Luftkammer bzw. Anheben der Druckstufe, Canyons "Shapeshifter" wiederum aktiviert per Daumenhebel eine Gasdruckfeder in der Hinterbaukonstruktion, welche die komplette Dämpferanlenkung verändert. Nehmen wir das Kenevo SL noch mit dazu, haben wir einen Sechsgelenker(!) mit Flip Chip sowie Steuersatz-Inserts zur zigfachen Geo-Verstellung.

Noch nicht genug vom Tecki-Fest? Dann lohnt ein Blick auf die Federelemente: Zum Einsatz kommen vor allem die Fox-38-Gabel mit massigen 38-mm-Standrohren (wie das ebenso großartige Rock-Shox-Pendant namens Zeb) und "Grip2"-Dämpfung sowie der Fox-X2-Stoßdämpfer. Um diese beiden abzustimmen, benötigt es zweimal Luftdruck und je viermal(!) das penible Setup von Zug- und Druckstufe, getrennt in High- und Lowspeed. Sagten wir schon: puh?

Highend-Enduro Test
Manfred Stromberg
Holterdiepolter? Von wegen, solche Wurzelteppiche schnupfen die Fahrwerke fast aller Enduros im Test weg wie nix.

Langholzlaster, Dickschiffe ...

Der kleine Exkurs ins Hightech-Universum zeigt, dass diese Dampfhämmer nicht für jede Bikerin und jeden Biker gemacht sind. Es sind Bergräder, die meist direkt aus dem Enduro-Rennsport stammen und eine gewisse Expertise verlangen. Die Geometrien treiben dies weiter. "Modern", also mit langem, flach angestelltem vorderen Rahmendreieck, sind sie alle. Dennoch teilt sich der Test in zwei Lager. Rocky, Scott und YT weisen auch im je flachsten Geo-Setup vergleichsweise(!) steile Lenkwinkel sowie einen kürzeren Reach auf. Letzterer gibt, grob gesagt, die "Reichweite im Stehen" an, also den Abstand von der vertikalen Verlängerung des Tretlagers zum Cockpit. Dabei ist der Wert extrem aussagekräftig, was das Handling eines Bikes angeht. Je länger er ist, desto sicherer steht man im Bike, desto größer ist der "Sweetspot" bezüglich der eigenen Positionierung. Ein langer Reach kaschiert, wenn man zu weit vorne oder zu weit hinten am Rad steht. Das kommt speziell im sehr groben und/oder steilen Gelände sowie bei Highspeed zum Tragen. Im gemäßigten Geläuf und bei langsamer Fahrt hingegen ist ein langer Reach gewöhnungsbedürftig, er macht das Handling "reisebusartig" träge. Den sprichwörtlichen Vogel schießt Canyon ab. Das neue Strive hat in Größe L einen fast astronomisch langen Reach von 505 mm. Auch GT, Norco und Scor – allesamt Neuheiten für 2022 – sind sehr lang gezeichnet.

Sind das noch Enduros?

Die Letztgenannten sind nicht nur die "Langholzlaster" im Test, sondern auch die Dickschiffe. Keines der vier Bikes bringt es unter die 15-Kilo-Marke, das Norco wiegt gar 17,4 Kilo. In Worten: siebzehnkommavier! Mehr als 15 Kilo sind es auch bei den ebenfalls neuen, jedoch etwas gemäßigter auftretenden Bikes von Santa Cruz und Simplon, unter 15 Kilo schaffen es – knapp – Rocky Mountain und YT, denen damit zumindest ein Hauch von Spritzigkeit anhaftet. Leicht ist jedoch nur ein Enduro: das Scott. Da das Ransom auch im Vergleich auf nicht ganz so extrem abfahrtslastige Parts setzt, zudem weniger potente Federelemente besitzt, wird es zum Streitfall in diesem Test: Bergauf ist es unschlagbar, bergab aber klar Letzter. Wie also definiert sich die Enduro-Kategorie 2022? Sind es noch Enduros im "alten Sinne", also Tourenbikes für hochalpines Gelände? Nein, mit Ausnahme des Scott sind diese Zeiten passé. Zwar klettert selbst das höchst pummelige Norco dank effizienter Heckfederung und supersteilem Sitzwinkel halbwegs geschickt, für Touren mit 1000 Höhenmetern und mehr braucht es aber die Fitness der EWS-Stars – oder ganz viel Zeit. Oder ganz viel Masochismus. Am besten etwas von allem.

Highend-Enduro Test
Manfred Stromberg
Mach mal langsam. Wer ordentlich am Volant zieht und die Neigetechnik beherrscht, kann auch bergauf und auf leichten Trails Spaß haben.

Was dann bergab passiert, lässt nur noch staunen: Holla, die Trailfee! Mit Ausnahme des Scott pulverisieren die Bikes jedes Hindernis, machen jeden Trailmeter zum Fest. Vor allem die besagten "Brachialos" von Canyon, GT, Norco und Scor liegen unfassbar satt auf dem Trail, bieten Spurtreue, Stabilität und Fehlertoleranz, wie sie selbst für Enduros nie da waren. Sogar manches reine Downhill-Bike dürfte da blass um den Vorbau werden. Das beste im Talschuss? Ist das Canyon, weil es nebst Traum-Handling ein Sahnefahrwerk besitzt. Und da das Strive dank seines Shapeshifters zumindest manierlich den Berg hochkommt, zudem fein ausgestattet ist, geht der Testsieg einmal mehr nach Koblenz. GT und Scor sind im Downhill ebenfalls geile Maschinen, zudem halbwegs bezahlbar – Kauftipps! Wer einen Schuss mehr Gutmütigkeit sucht, wird von den edel ausgestatteten Enduros von Santa Cruz, Simplon und YT nicht enttäuscht. In Sachen "sicherer Spielwitz" empfiehlt sich das Rocky. Die sieben genannten Enduros sind unterm Strich dann auch für alle Bikerinnen und Biker wahrhaft schwer in Ordnung, die sich auf die komplexe Technik, die zünftigen Gewichte und die extremen Geometrien einlassen wollen. Und können. Scott und Norco laufen quasi außer Konkurrenz, das Ransom ist das Touren-Enduro schlechthin, das Range der Freerider. Beide verlieren als "Randexistenzen" aber im Vergleich zu viele Punkte. Das E-MTB von Specialized zeigt hingegen, wo die Enduro-Reise hingehen könnte – oder aber auch nicht.

Diese zehn Highend-Enrudos haben wir getestet

Ergebnisse im Detail

Punkte und Benotung

Alle unsere Biketests bauen auf einer der jeweiligen Kategorie entsprechenden Punktewertung auf, die alle wichtigen Fahreigenschaften wie z. B. Handling, Vortrieb, Downhill und Uphill umfasst. Ein Drittel der Gesamtnote steuern Laborerhebungen wie Gewicht, Rahmen-Verarbeitung und Ausstattung bei. Hauptsächlich ergibt sich die Note aus umfangreichen Testfahrten auf einer zuvor festgelegten, der Kategorie angepassten Teststrecke. An den Testfahrten nehmen drei bis vier erfahrene Testfahrer mit teils Rennerfahrung oder technisch fundiertem Wissen teil. Bei den Enduros standen vor allem natürlich die Bergab-Eigenschaften, das Fahrwerk und der Fahrspaß im Fokus – wobei Uphill und Vortrieb auch immerhin 150 der 1000 Gesamtpunkte ausmachen. Die Bewertungen der Tester sowie die Punktevergabe aus dem Labor fließen in die unten stehende Punktetabelle ein. Das Bike mit den meisten Zählern ist – logo – Testsieger.

Highend-Enduro Test
MOUNTAINBIKE

Das Spinnennetz

... zeigt, wo die Stärken und Schwächen des Bikes in Relation zum Testumfeld liegen. Je größer der Ausschlag in einem der acht Bereiche, desto prägender der jeweilige Charakterzug. Ein Allrounder weist rundum eine große Fläche, ein Spezialist eine verschobene Grafik auf. Die jeweiligen Eigenschaften wie Up- oder Downhill sind, wenn sinnvoll, bewusst gegensätzlich angeordnet. So siehst du auf einen Blick, welche Stärken das Bike besitzt. Die Grafik unten rechts zeigt ein Preis-Leistungs-starkes Bike mit agilem Handling und sehr trägem Vortrieb.

MB-All-Mountain-Test 2021 Geo

Stack to Reach

Wie verhalten sich die beiden wichtigen Werte bei den Testbikes zueinander?

Reach und Stack sind elementare "Player", wenn es um die Bergab-Performance und die Größe eines MTBs geht. Beide haben den "Ursprung" im Tretlager bzw. in einer gedachten vertikalen Linie von der Tretlagermitte nach oben. Die Höhe bis zur Steuersatzmitte (oben) ist der Stack, die Entfernung dieses Punktes zur Steuerrohrmitte (oben) der Reach. Ein langer Reach stellt einen stabiler, zentrierter ins Bike, ein hoher Stack im Prinzip ebenso. Je länger/höher die Werte sind, desto mehr kann das Handling aber auch ins Träge tendieren. Das Schaubild zeigt, wo sich die Bikes jeweils einordnen. Die von uns getestete Größe steht in Klammern. Ein sehr niedriger Stack zwingt oft dazu, den Lenker mit Spacern zu unterfüttern, was den "realen" Reach verkürzt.

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Die aktuelle Ausgabe
05 / 2024
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Erscheinungsdatum 02.04.2024