Tourenfullys beschränken sich aufs Wesentliche und sind dennoch ungemein vielseitig. MountainBIKE hat 15 Modelle getestet.
Tourenfullys beschränken sich aufs Wesentliche und sind dennoch ungemein vielseitig. MountainBIKE hat 15 Modelle getestet.
Tourenfullys erfreuen sich seit jeher hoher Beliebtheit. Auch bei den MB-Lesern, wie die jüngste Leserwahl vom Herbst 2010 belegt. Obwohl mittlerweile von der populären All-Mountain-Kategorie knapp überflügelt, holt das Tourenfully-Segment immer noch beeindruckende 47 Prozent auf der Interessenskala.
Das allein ist Verpflichtung genug für MountainBIKE, 15 der derzeit spannendsten 120-mm-Allrounder der Preisklasse von 2500 bis 3000 Euro einem intensiven Vergleichstest zu unterziehen – Bikes, die noch bezahlbar, aber technisch voll auf der Höhe sind. Wodurch sich die enorme Beliebtheit dieser Kategorie erklärt?
Die Bikes beschränken sich vielfach aufs Wesentliche, sind dennoch gleichzeitig überaus vielseitig in ihren Fahrleistungen. Dies gelingt ihnen zunächst einmal über das geringe Gewicht von rund 12 Kilo, das dem Fahrer auch ausgedehnte Touren nicht verleidet.
Das wird auch möglich durch austarierte wie ausgewogene Geometrien, die durch steil stehende Sitzwinkel – 73° bis 74° sind die Regel – hohen Schub bergauf erzeugen, durch flachere Lenkwinkel – meist um/unter 69° – einen gelungenen Mix aus Trail-Agilität und hoher Spurtreue im Downhill kreieren.
Das kluge Zusammenspiel von Winkeln und Rohrlängen unterstützt den Klettertrieb der Bikes, sorgen im Idealfall für souveränen Überblick im Trailgeschehen und erlaubt den Verzicht auf das, worauf Tourenfullys noch vor gar nicht so langer Zeit zwingend setzten: Vario-Fahrwerke.
Niveauregulierbare, absenkbare Federgabeln, die umständlicher zu bedienen und schwerer sind als „einfache“ Gabeln, finden sich zu Recht nur noch vereinzelt am modernen Tourenfully. Als Standard für den Federweg von Gabel und Hinterbau sind stattdessen fixe, also nicht verstellbare 120 mm etabliert – ganz nach dem Motto „Keep it simple“!
Das gilt auch für das – bei AM-Fullys oftmals allzu komplexe – Fahrwerks-Setup: Die zwischen rennmäßiger Straffheit und maximalem Komfort ausgependelten Kennlinien sind ruckzuck abgestimmt.
Effiziente Kinematiken, denen (idealerweise) unschöne Begleiterscheinungen wie Pedalrückschlag oder Wippen im Antritt fremd sind, machen schließlich auch Lockout-Hebel für die Hinterrad-Federung unnötig. Folge: weniger Gewicht, keine anfällige Technik, kein Mitdenken des Fahrers erforderlich, mehr Spaß!
Diese einfache wie durchdachte Aufmachung der Bikes gestattet den breiten Einsatzbereich: die kurze Feierabendrunde, ein 24-Stunden-Rennen oder eine technisch anspruchsvolle Alpenüberquerung? Alles kann, nichts muss! Das technische „Keep it simple“ wird, anders als etwa in der angrenzenden All-Mountain-Kategorie, dadurch gestützt, dass die Bikes keine Extreme beherrschen müssen.
Größere Sprünge etwa oder besonders verblockte Trailpassagen auf ausgesetzten Pfaden? Hier endet ihre Kompetenz! Was den Bikes zugutekommt: Die Ausstattung, beispielhaft erwähnt seien Laufräder, Reifen und auch Bremsen, muss keinen brutalen Belastungen widerstehen, das Bike kann so leichter ausfallen, spritziger sein.
Die getesteten Supertourer – dabei beliebte Modelle wie das Canyon Nerve XC (Platz 1 bei der MB-Leserwahl 2010) oder die Specialized-Neuheit Camber – verfügen zumeist über hochentwickelte und solide Alu-Rahmen. Ausnahme: Ghost schickt sein AMR mit leichtem und dennoch robustem Carbon-Hauptrahmen ins Rennen. Alu/Carbon-Hybride sind die Chassis von Felt und Bergamont.
Die eingesetzten Komponenten im Testfeld reichen von den Mittelklassegruppen Shimano SLX und Sram X.7 über XT/X.9 bis zu den Hightech-Ensembles XTR und X.0. Ein gewaltiger Klassenunterschied, der seinen Grund in den Versendermodellen von Radon, Rose, Canyon und Votec hat. Sie ersparen dem Käufer mittels Direktvertrieb die Verkaufsmarge des Fachhandels.
Ergebnis: Bei gleichem Preis sind die Modelle deutlich hochwertiger ausgestattet, das Bike somit meist leichter. Abseits der Direktvertreiber fällt auf, dass die verbauten Komponenten oft um eine ganze „Klasse“ schlechter sind als im Vorjahrestest. Schuld sind laut Hersteller der ungünstige Dollarkurs, steigende Löhne in Asien und höhere Frachtkosten.
Um die Fahrqualitäten der 15 Testprobanden zu untersuchen, reiste die MB-Testcrew Mitte Januar ins milde, in unteren Lagen schneefreie Latsch, Südtirol. Auf einem drei Kilometer langen Rundkurs mit 200 Höhenmetern verlangten kurze Steilanstiege, schnelle Abfahrten über felsiges Geläuf und rasante, flowige Trails Bike und Biker alles ab. Im Anschluss erfolgte die aufwendige Untersuchung der Testbikes im MB-Labor.
Deutlich unter dem Testdurchschnitt liegt mit 2500 g der Ghost-Carbon-Rahmen – bei guten Steifigkeitswerten und somit ein Fingerzeig in die Materialzukunft der Touringbikes. Das steifste Chassis indes ist noch immer aus Alu und kommt von Bergamont: Mit 254,9 Punkten sind die Steifigkeiten am Contrail die höchsten, gefolgt von Rose und Felt.
Die geringen Lenkkopfsteifigkeiten von Cannondale und Rotwild stellen keinen direkten Anlass zur Sorge da, sie fielen im Testbetrieb nicht auf. Allerdings: Schwere Fahrer, die gern mit voll gepacktem Rucksack in anspruchsvollem Gelände unterwegs sind, unterziehen diese Bikes vor einem möglichen Kauf besser einer Probefahrt. Das beste Verhältnis aus Rahmengewicht und -steifigkeit (= SGI-Wert) erzielt das Rose (89,5), dicht gefolgt vom Bergamont (87,6).
Eine gute Rahmenbasis macht indes noch kein in seinen Fahreigenschaften komplettes Tourenbike. Erst das Zusammenspiel eines antriebsneutralen, effizienten und trotzdem feinfühligen Fahrwerks mit einer ausgewogenen, Fahrsicherheit vermittelnden Geometrie ergibt in der Praxis ein geschlossenes Gesamtkonzept.
Erfreulich dabei: Das Niveau der Kinematiken ist fast ausnahmslos hoch, die Hinterbauten meist auf „Anti-Squat“ (Wippunterdrückung) getrimmt. Dies macht den steten Griff zu Plattform- oder Lockout-Hebel obsolet, bestätigt erneut den „Keep it simple“-Ansatz.
Wo Licht ist, ist auch Schatten: Die Hinterbauten am Cannondale und Votec enttäuschen, verhindern so das „sehr gut“. Anders die „Causa Steppenwolf“: Beim Tundra überzeugt das Fahrwerk, das nervöse, unpräzise Handling verhagelt die bessere Note.
Apropos Zusammenspiel von Fahrwerk und Handling. Hier glänzen BMC, Ghost und Trek zwar grundsätzlich als Allrounder, besitzen dank ihrer satten Fahrwerke aber speziell bergab und im groben Gelände ausgeprägte Stärken, kratzen fast an der Herrschaft der All-Mountains.
Dass andererseits auch ein straffes Sportfahrwerk bei einem Allrounder Sinn machen kann, zeigt exemplarisch das herausstechende Radon, bei dem die Race-lastige Geometrie gekonnt mit größtenteils tourentauglichen Parts gekreuzt wurde – nur die 2-fach-Kurbel macht wie am Votec alpine Abenteuer zur Kraftprobe.
Als gewiefteste Alleskönner trumpfen das quirlig-lebendige Bergamont, das ausgewogene Rotwild und nicht zuletzt das Canyon auf. Speziell beim Nerve XC darf das Credo gelten: aufsitzen, reintreten und Fahrspaß erleben – egal in welcher Geländesituation! Eine neue Tür in Sachen Fahrspaß eröffnet den 120-mm-Tourern das mit erstaunlich hohen Trailfertigkeiten ausgestattete, wuselige Specialized.
Sofern Steckachse und Remote-Lockout bei der Gabel vorhanden sind, wiegt MB diese mit. Das Laufradgewicht ist die Summe aus dem eigentlichen Laufradsatz mit Schnellspannern, Felgenband, Schlauch, Reifen, Bremsscheiben und Schrauben.
Auf EFBe-Prüfständen misst MB die Steifigkeiten der Bikes. Die
Tretlagersteifigkeit zeigt, wie sich der Rahmen im Antritt verwindet, die Lenkkopfsteifigkeit beeinflusst die Spurstabilität. Mit top Werten glänzen am Tretlager das Bergamont, Rose und Felt. Die geringeren Lenkkopfsteifigkeiten von Cannondale, Giant, Rotwild und Specialized waren in der Praxis nicht wahrnehmbar.
Der VPP-Hinterbau mit virtuellem Drehpunkt verwöhnt am Speedfox durch hohe Sensibilität und starke Traktion im Uphill einerseits, durch sattes Schluckvermögen im Downhill andererseits.
2,25“-Reifen sind Standard im Touring-Gewerbe, besser aber sind 2,4“-Reifen. Vor allem, wenn sie leicht rollen, tollen Seitenhalt und Pannenschutz bieten wie der Continental X-King am Virtue Pro.
Das Carbon-Chassis des AMR Lector wirkt „wie aus einem Guss“. Das liegt auch an schönen Details wie der aufgeräumten, eleganten Zugführung am Unterrohr des Fullys.
Vom Skeen AM stiegen die MB-Tester nur ungern ab. Gründe dafür waren der generös breite Syntace-Lenker (700 mm) mit angenehmer Kröpfung nach hinten und die starke XTR-Bremse.
Nur die 2-fach-Kurbel am Camber ist mit 38/24er-Blättern durchdacht bestückt. Sie erlaubt flüssiges Klettern auch an Steilanstiegen, gleichzeitig baut der Fahrer genug Speed auf.
Auf steilen Abfahrten muss die Sattelstütze zur besseren Radkontrolle problemlos und weit genug im Rahmen versenkt werden können. Die Biegung im Felt-Sitzrohr verhindert das aber.
Mit unguten Gefühlen auf anspruchsvollen Trail-Passagen kämpften die Tester bisweilen im Sattel des Steppenwolf. Grund: der lange 100er-Vorbau und der 640 mm schmale Lenker.
Der Viergelenk-Hinterbau am V.MR konnte mit dem DT-XM180-Federbein nicht zur bekannten Form auflaufen. Zudem lockerte sich der Hinterbau bereits nach der ersten Testfahrt.
Praxistest: Zu Anfang auch dieses MB-Tests stand die intensive praktische Prüfung der Allound-Tourenfullys. Das vierköpfige Testteam nutzte dazu die optimalen Testbedingungen in Latsch, Südtirol, um den 15 Testprobanden gründlich auf die Stollen zu schauen.
Die Teststrecke bot dazu beste Voraussetzungen: Flowige, schnell fahrbare Trails alternierten mit schnellen Downhills, einer kurzen Asphaltpassage und mitunter sehr technischen Anstiegen. Der drei Kilometer lange Testparcours mit rund 200 Höhenmetern beantwortete die wichtigen Fragen der Tester.
Stimmt das Handling? Welches Bike liegt im Downhill am besten, welches geht am effektivsten voran und bergauf? Ist die Geometrie sauber ausbalanciert? Dabei wurde jedes Bike von jedem Fahrer mindestens einmal gefahren.
Praxisnoten: Nach jeder Testrunde notierten die Tester isoliert ihre Eindrücke zum Rad auf speziellen Bewertungsbögen. Im Anschluss erfolgte die gemeinsame Besprechung aller Räder. Welches klettert am effektivsten? Was macht der Hinterbau in Up- und Downhill? Ist das Cockpit überhaupt ergonomisch?
Labortest: Auf den Praxistest folgte die Laborprüfung. Zunächst wurden die Bikes gewogen, anschließend zerlegt und die Gewichte von Rahmen, Gabel und Laufrädern ermittelt. Zusätzlich nahm MB die Geometrie auf. Abschließend erfolgte auf EFBe-Prüfständen die Messung der Tretlagersteifigkeiten und der Lenkkopfsteifigkeiten.
Endnote: Über einen komplexen Bewertungsschlüssel aus über 1500 Einzelnoten ermittelte MB die Endnote und mit dem punktbesten Bike schließlich auch den Testsieger.
120 mm an der Gabel markieren einen funktionellen Kompromiss aus Komfort und geringem Gewicht. Auch am Hinterrad sind effiziente 120 mm der Tourer-Standard.
Sie bewegen sich um/unter 69°. Ziel ist ein guter Kompromiss aus ausreichender Laufruhe und der nötigen Wendigkeit.
Als effektiv erweisen sich Sitzwinkel zwischen 73,5° und 74,5°. Sie zentrieren den Fahrer-Schwerpunkt über dem Tretlager, sorgen für Vortrieb.
Eine starke 180-mm-Bremse am Vorderrad ist Pflicht! Schwere Piloten und Alpenfans montieren auch hinten eine große Disc.
Wichtig ist die Paarung aus Stabilität und niedrigem Gewicht. Ein Satz um die 1700 g ist gut zu beschleunigen und sollte mindestens 2,25“-Pneus aufnehmen können.
Mindestbreite für guten Grip und Pannenschutz ist 2,25“. Alpen-Fans und schwere Fahrer setzen besser auf 2,4“-breite Reifen und/oder auf verstärkte Flanken.
Verstellbare Federwege sind out, fein ausbalancierte Geometrien und effektive, antriebsneutrale Hinterbauten in. Gerne mit Plattform-Option(!) am Federbein.
Breite und ergonomische Lenker steigern unmittelbar Fahrspaß und Kontrolle. Vorbauten zwischen 80 und 95 mm sorgen für ein direktes, reaktionsschnelles Handling.
Testsieger dank starker technischer Werte und sehr vielschichtigem Charakter ist das Canyon Nerve XC 9.0 SL. Das Rotwild R.C1 FS Comp sichert sich den Kauftipp knapp vor dem Specialized Camber.