Alle wichtigen Infos zum neuen MTB-Laufradstandard 650B
Die 15 wichtigsten Fragen zum Thema 650B

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Kaum haben sich 29er-Mountainbikes etabliert, ­präsentieren die Hersteller einen weiteren ­Standard: 650B. MountainBIKE beantwortet die 15 wichtigsten Fragen zu den Bikes mit dem neuen Laufradmaß.

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Foto: Benjamin Hahn

650B – Was ist denn das?

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Benjamin Hahn
MTB-Laufradstandard 650B

Seit dem Siegeszug des Mountainbikes in den 80er/90er Jahren war es einfach: Ein Rennrad hat Laufräder mit 28 Zoll Durchmesser, ein Mountainbike 26 Zoll. Doch nun etablieren sich seit zwei Jahren auch größere 29er-Wheels im Mountainbike-Segment: die Twentyniner. Kaum stoßen diese „Riesenräder“ nach leidenschaftlichen Diskussionen sowie zig Anläufen (speziell in Europa) auf Akzeptanz und Käuferinteresse, wird offenbar die nächste Kuh durchs Dorf getrieben: 650B. Zur Verwunderung, aber auch zum Entsetzen vieler Biker, die eher eine Marketing-Finte vermuten. Oder eine, Pardon, Kunden-Verarsche. Dabei ist das Laufradmaß 650B nicht einmal neu, sondern ein, gemessen am Alter des Mountainbikes, geradezu prähistorisches, französisches Maß: Bereits vor vielen Jahrzehnten rumpelten zum Beispiel Lastenfahrräder mit 650B-Laufrädern über die Karrenwege der Bretagne und Provence – damals quasi die SUVs unter den Fahrrädern und somit eigentlich die Vorgänger der Mountainbikes. Apropos: Auch die MTB-Pioniere um Gary Fisher experimentierten an ihren „Klunkers“ mit 650B-Laufrädern – es gab jedoch schlicht nicht genug, so fiel die Wahl auf 26 Zoll.

Im Bild: 26", 650B oder 29" - was fährt besser? Zumindest bergauf hatte 29", wie auf dem Bild zu sehen, die Nase vorne, gefolgt von 650B. 26" liegt in puncto Traktion und präzisem Lenkverhalten (im Uphill) klar hinter den großen Laufrädern.

Woher kommt die Bezeichnung 650B?

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MTB-Laufradstandard 650B

Ja, jetzt wird‘s kompliziert! Zwar ist das Wirrwarr nicht so groß wie beim Automobil (wo fast jeder Pkw auf verschiedenen Laufradgrößen rollt), die Koexistenz mehrerer Bezeichnungen trägt jedoch kaum zum ­Verständnis bei. So gibt es beim Fahrrad drei Maße, welche die ­Laufrad- oder Laufrad-/Reifengröße ­bezeichnen: Zoll, ETRTO und französisches System. Auf Letzterem fußt auch 650B: Dabei stand der numerische Wert (650) für den Reifen­außendurchmesser in Millimetern, der alphabetische Wert (B) ursprünglich für die Breite des Reifens. Die ETRTO-Norm gibt hingegen den Reifeninnendurchmesser (also die Felge) in Millimetern an: 559 mm bei „herkömmlichen“ Mountainbikes oder 622 mm bei Renn- und Trekkingrädern. Die aus den USA „importierte“ Zoll-Angabe schließt die Reifengröße wieder mit ein. So kommt es, dass Rennräder und Twentyniner die identische ETRTO-Angabe besitzen, weil sie dasselbe Felgenmaß (622 mm) verwenden, aber durch verschieden große Reifen eine andere Zollangabe aufweisen. Vereinfacht gesagt: Ein 29"-Bike ist ein 28"-Fahrrad mit ­dicken Schlappen. Und ein 650B-Laufrad/Reifen? Liegt, was den Reifeninnendurchmesser angeht, näher an 26" als an 28"/29". Zusammen mit dem Reifen ließe es sich dennoch als Mittelmaß mit 27,5" „übersetzen“. Wobei ein 26"-Laufrad mit breitem Freeride-Reifen einen größeren Radumfang als ein 650B-Laufrad mit schmalem Race-Pneu haben kann ...

An wen richtet sich 650B?

Neben vielen Vorteilen bedingen größere Laufräder auch Nachteile. Das größte Hindernis für die Bike-Konstrukteure ist schnell erklärt: Je größer das Laufrad, desto mehr Platz benötigt es. Gerade bei Fullys mit mehr als 130 mm Federweg lassen sich 29"-Laufräder und eine optimale Kinematik der Hinterradfederung kaum vereinbaren – die Folge wären monströs lange Kettenstreben und damit das Handling eines Kreuzfahrtschiffs. Von 650B versprechen sich die Ingenieure daher bei All-Mountain- und Enduro-Fullys den Königsweg: den Benefit größerer Laufräder kombiniert mit saftigen Federwegen. Aber auch die bereits voll dem Twentyniner zugewandte Hardtail-Szene „muckt auf“: Cross-Country-Star Nino Schurter (Schweiz) führte einen 650B-Prototyp auf Anhieb zum Worldcup-Sieg. Olympia 2012 in London könnte zum Kampf der Systeme werden: Gewinnt Favorit Schurter (650B)? Oder Altmeister Julian Absalon (Frankreich, 26")? Gar Geheimtipp Manuel Fumic (Deutschland, 29")? Oder fahren doch alle dieselbe Laufradgröße? Die Profis sind sich wie die Hersteller unsicher, wohin die Reise gehen wird.

Welche Parts sind betroffen?

Im Fokus stehen – logo – die Laufräder, wodurch automatisch Reifen sowie Schläuche „betroffen“ sind. Auch der Rahmen und die Gabel sollten auf das 650B-Maß angepasst sein. Wobei bereits viele herkömmliche 26"-Forken genügend Reifenfreiheit für 650B-Laufräder bieten.

Welche 650B-Produkte gibt der Markt schon her?

Der Siegeszug der Twentyniner wurde jahrelang durch die Komponentenhersteller entschleunigt: Hochwertige Federgabeln oder Laufräder waren Mangelware. Ein Versäumnis, das Fox und Konsorten nicht wiederholen wollen. Im Gegenteil: Es gibt bereits Highend-Gabeln etwa von Fox, Magura und Rock Shox. DT Swiss und Sram bieten Laufräder, Schwalbe & Co. 650B-Varianten ihrer Reifen-Topseller. Die Bike-Hersteller halten sich indes offiziell noch bedeckt. Hinter den Kulissen experimentiert aber jeder mit der Zwischengröße. Speziell europäische Marken, in Sachen Twentyniner lange zurückhaltend, tüfteln eifrig. Ausnahme: Scott hat gerade erst mit dem neuen Genius ein 650B-Großserien-Bike präsentiert.

Benötigt ein 650B-Bike eine spezielle Geometrie?

Zunächst muss der Rahmen genug Platz für ein 650B-Laufrad bieten – Stichwort Ketten- und Sitzstrebenlänge. Alle weiteren Parameter befinden sich noch in der „experimentellen Phase“, ähnlich wie zu Beginn der 29er-Welle. Damals versuchten die meisten Hersteller, mit extra steilen Lenkwinkeln den im Vergleich zum 26er trägeren „Big Bikes“ Agilität einzuimpfen. Inzwischen geht der Trend bei den 29-Zöllern zu moderat steilen Lenkwinkeln und möglichst kurzen Kettenstreben. Auch bei den ersten 650B-Prototypen orientieren sich die Ingenieure an der aktuellen Erfolgsformel der 26"-Fullys: Lenkwinkel je nach Kategorie flach (etwa 68° bei einem All-Mountain), Sitzwinkel steil (73,5°–74,5°), Oberrohr eher lang.

Und was wiegt das Ganze?

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MTB-Laufradstandard 650B

Kurzum: Mehr Material bringt mehr Gewicht. So wuchtet ein Highend-29er-Bike rund ein Kilo mehr auf die Waage als ein vergleichbar aufgebautes 26"-MTB. Dabei fällt der Rahmen kaum auf: Der aktuell leichteste 29er-Hardtail-Frame (Scott Scale 29) wiegt mit 950 g nur 50 g mehr als sein ebenfalls extrem asketischer 26er-Bruder – so viel wie eine halbe Tafel Schokolade. Die ersten 650B-Serienrahmen dürften noch näher an das 26er-Gewicht rücken. Deutlicher – und in der Praxis spürbarer – sind die Unterschiede bei der beschleunigten Masse, den Laufrädern und Reifen. Zum Vergleich (s. Tabelle oben) wog MB drei „nur“ in den Laufradgrößen variierende Rundlinge vom Typ Sram ­Rise 40 und drei je 2,25" breite Schwalbe-Nobby-Nic-Reifen. Zudem drei Rock-Shox-Revelation-Gabeln. Erstaunlich: 650B liegt jeweils klar näher an 29" als an 26" – es liegt noch Potenzial brach.

Ist 650B so steif wie 26"?

Ein Nachteil von 29"- gegenüber 26"-Bikes sind geringere Steifigkeiten. Daran trägt erneut nicht der Rahmen Schuld, die MountainBIKE-Messungen des 2012er Bike-Jahrgangs ergaben keine signifikanten Unterschiede. Bei den Laufrädern erreichten die 2012 von MountainBIKE geprüften 29"-Rundlinge im Schnitt aber nur 75 Prozent der Seitensteifigkeiten ihrer 26er-Pendants – das ist in der Praxis spürbar! Auch die drei Sram-Laufräder prüfte das MB-Labor. Ergebnis: Ausgehend vom 26"-Laufradsatz, erreichen die 650B-Rundlinge 89 Prozent der Steifigkeit, die 29er gar nur 76 Prozent. Die 650B-Laufräder kommen den 26-Zöllern also in Relation näher.

Warum denn überhaupt größere Laufräder?

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MTB-Laufradstandard 650B

Der erste Ritt auf einem 29er wird meist zum Aha-Erlebnis. Zunächst einmal gefällt das Gefühl, „tiefer gelegt im Rad“ zu sitzen. Dann überrascht, wie leicht ein 29"-Bike Hindernisse wie Wurzeln oder Steine einfach überrollt. Der Grund dafür ist der flachere Aufprallwinkel eines 29"-Reifens im Vergleich zum 26er. Für das Überwinden des Hindernisses ist eine geringere Antriebskraft nötig. Anders gesagt: Bike und Biker werden weniger abgebremst, das Rad rollt über das Hindernis, anstatt dagegen zu prallen. Auch bei Schlaglöchern profitiert der Biker von größeren Laufrädern: Sie tauchen weniger tief ein. Und: Große Räder rollen besser als kleine! Messungen von MountainBIKE und Reifenhersteller Schwalbe ergaben, dass 29er acht Prozent weniger Rollwiderstand aufweisen als 26er – was inzwischen von der Deutschen Sporthochschule Köln im Rahmen einer Diplomarbeit bestätigt wurde. Einmal beschleunigt, halten große Laufräder zudem die Geschwindigkeit länger – bei Marathons oder Mehrtagesrennen sind Twentyniner heute nahezu Pflicht. Theoretisch greifen zudem durch die längere Auflagefläche größerer Laufräder mehr Reifenstollen gleichzeitig, der Kurvengrip müsste steigen.

In der Grafik schematisch dargestellt: Das kleinere Laufrad prallt mit einem steileren Winkel auf das Hindernis als das größere Laufrad – und wird so stärker abgebremst.

Sind die Vorteile großer Räder auch objektiv messbar?

Um den Kurvengrip und das Überrollen von Hindernissen zu überprüfen, standen MountainBIKE drei Nicolai-Helius-AC-Fullys zur Verfügung: die 26"- und 29"-Versionen sowie ein 650B-Prototyp. Erneut ausgestattet mit Sram-Laufrädern, Schwalbe-Reifen und Rock-Shox-Gabeln. Die Bikes wurden mit Beschleunigungs- und Speed-Sensoren von 2D-Datarecording verkabelt und von Testfahrer Fabian Schjolz in einem definierten Kurvenradius ans Limit, sprich bis zum Ausbrechen des Reifens getrieben. Bei der Datenanalyse am PC zeigte sich, dass die drei Bikes zum identischen Zeitpunkt ausbrechen. Ein messbarer Grip-Vorteil von 650B oder 29" liegt gegenüber 26" also nicht vor. Aber: „Im Grenzbereich verhält sich das 29er-Bike am gutmütigsten, bricht also nicht so abrupt aus, gefolgt von 650B“, so Scholz. Beim Überrollen einer definierten Hindernissstrecke mit jeweils gleicher Ausgangsgeschwindigkeit ist der Vorteil größerer Laufräder hingegen messbar. Vereinfacht ausgedrückt gilt dabei: Je größer das Laufrad, desto weniger wird es von den Hindernissen abgebremst, desto schneller ist der Fahrer.

Und wie fahren sich 650B & Co. in der Praxis?

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Benjamin Hahn
MTB-Laufradstandard 650B

Erneut wählte MountainBIKE die drei „baugleichen“ Nicolai-Fullys mit 140/150-mm-Fahrwerk als 26"-, 650B- und 29"-Testmodell. Drei MountainBIKE-Tester jagten die Bikes über einen anspruchsvollen Kurs mit steilem Uphill, langen Rollpassagen sowie kurvigen und verblockten Trails. Nach jeder Runde, teils nach jeder Steigung oder Kurve, tauschten die Tester die Bikes, um die Laufradgrößen direkt zu vergleichen. Und? Zumeist bestätigt die Praxis die Messungen: „Eindeutig, 29 Zoll rollt besser über Hindernisse, bietet beim Klettern die meiste Traktion und die höchste Laufruhe. Knapp gefolgt von 650B, 26 Zoll ist Schlusslicht“, so MountainBIKE-Testchef André Schmidt. Dafür trumpft das 26er beim Beschleunigen sowie in puncto Agilität und Wendigkeit auf, dort verliert 29" klar. Anders als vermutet, kürten die Tester 650B jedoch nicht zur „goldenen Mitte“. MB-Rider Fabian Scholz: „Positiv wie negativ fuhr sich 650B mehr wie ein kleiner Twentyniner, weniger wie ein 26-Zöller.“ Der Grund dürfte jedoch an der besonders laufruhigen Geometrie des 650B-Prototyps von Nicolai liegen. MB-Redakteur Chris Pauls: „Für mich der Beweis, dass eine perfekte Geometrie die entscheidende Basis für ein gutes Bike ist. Erst dann kommt die Laufradgröße.“

Das Foto zeitgt 29", 650B und 26" im Dreiklang: Beim Kurvengrip ermittelte MountainBIKE via Datarecording keine Unterschiede, die Tester lobten aber den „gutmütigeren Grenzbereich“ von 29 Zoll.

Welche Laufradgröße setzt sich in Zukunft durch?

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MTB-Laufradstandard 650B

So sehr die MountainBIKE-Redaktion die hauseigene Kristallkugel schüttelte, eine verbindliche Antwort wollte diese nicht preisgeben. Einige Hersteller beschwören bereits das baldige Ende der 26-Zöller – und tatsächlich spielen 26“-Hardtails in den USA nur noch auf dem Gebrauchtmarkt eine Rolle. Sollte sich 650B wirklich als dritte Laufradgröße etablieren, scheint das in der unten stehenden Tabelle skizzierte Szenario für die Zukunft möglich. Motto: je größer der Federweg, desto kleiner das Laufrad. Ebenfalls denkbar: Die Hersteller bieten etwa ihr All-Mountain-Fully mit allen drei Laufradgrößen an – 26" für Fahrer(innen) unter 165 cm Körpergröße, 650B bis 185 cm, 29" für sehr große Rider.

Was spricht denn eigentlich dagegen?

Rein technisch spricht wenig gegen eine dritte Laufradgröße. Die Akzeptanz bei den Bikern ist aber noch äußerst gering – zumal selbst die inzwischen in vielen Bereichen eta­blierten Twentyniner noch bei einem Gros der (europäischen) Bergradler auf wenig Gegenliebe stoßen. Auch die Bike-Händler stehen 650B fast geschlossen ablehnend gegenüber. Sie fürchten neben einem erhöhten Beratungsaufwand vor allem höhere Anschaffungs- und Lagerkosten für Laufräder, Reifen, Schläuche etc.

Kann ich auch mixen?

Theoretisch ja – und auch das wäre nicht neu. So nahmen viele Downhiller Anleihe beim Motocross und kombinierten vor einigen Jahren 26"-Vorderrad mit 24"-Hinterrad, um bergab den Schwerpunkt nach hinten zu verlagern. Durchgesetzt hat sich dies auch aufgrund gewachsener Federwege und flacherer Lenkwinkel nicht. Vor fünf Jahren präsentierte Trek sogar das „69-Bike“ mit 29er-Wheel vorne und 26er im Heck – ohne Erfolg. Aktuell experimentieren einige Firmen wie etwa Lite­ville mit unterschiedlichen Laufradgrößen, speziell 650B vorne und 26" hinten steht im Fokus. Technisch wäre dies ohne Frage die beste Lösung, wie die von MountainBIKE durchgeführten Messung belegen.

Ist 650B nun die goldene Mitte?

Ja und nein. Tatsächlich liegt 650B in allen Belangen irgendwo zwischen 26" und 29" – positiv wie negativ. Es ist leichter als 29", aber schwerer als 26". Nicht so steif wie 26", aber verwindungsärmer als 29". Per Datarecording bewies MounatiBIKE zudem, dass 650B Hindernisse schneller überrollt als 26" – nur eben nicht so flott wie ein Twentyniner. Im Praxistest empfanden die MB-Fahrer 650B als „näher an 29 denn an 26 Zoll“ . Was im speziellen Fall mit nur drei Vergleichs-Bikes auch an den jeweiligen Geometrien lag. Dennoch: Zahlen lügen nicht, und danach bringt 650B für bestimmte Kategorien Vorteile. Speziell All-Mountain- und Enduro-Biker könnten von größeren (650B-)Laufrädern profitierten, ohne Kompromisse bei der Geometrie und Kinematik ihrer Fullys eingehen zu müssen. Ob sich 650B am Ende durchsetzen wird, das wird die Käuferschaft entscheiden.

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Erscheinungsdatum 05.03.2024