27,5 Plus, 27,5+ oder B+ - MountainBIKE erklärt den neuen MTB-Laufradstandard

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Erst 29“, dann 27,5“, dann Fatbikes. Und nun? Steht der nächste Laufradstandard fürs MTB an! MountainBIKE erklärt, was hinter dem Kürzel 27,5“+ (oder B+) steckt. Worum geht es technisch? Was sind die Vor- und Nachteile? Kann man 27,5“+ nachrüsten? Wer braucht 27,5“+? Was hält die MountainBIKE-Redaktion vom neuen MTB-Maß? Hier gibt's die Antworten.

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Foto: Rocky Mountain

1. Kurzcheck 27,5“+

  • Laufräder mit 27,5“/650B-Durchmesser, aber mit breiten Felgen (bis 50 mm) und breiten 3-Zoll-Reifen: also 27,5“ x 3“
  • Vorteile: besseres Überrollverhalten, sehr geringer Rollwiderstand im Gelände, extrem hoher Grip, niedrige Luftdrücke bei geringer Pannengefahr möglich
  • Nachteile: kaum Kompatibilität mit aktuellen Bikes, höheres Gewicht als bei 27,5“ und 29“, Verfügbarkeit noch nicht geklärt, weitere Verunsicherung bei Kunden und Handel
  • 27,5“+ wird vor allem bei Hardtails, Touren- und All-Mountain-Fullys zum Einsatz kommen
  • Boost: neuer Standard für Laufräder, Federgabeln und Kurbeln – teils für 27,5“+ nötig, kommt auch für 29“. Vorteile: höhere Steifigkeit, mehr Reifenfreiheit

2. 27,5“+ - Was hinter dem neuen MTB-Laufradstandard steckt
Zunächst: Eigentlich ist 27,5“+ keine neue MTB-Laufradgröße sondern viel mehr eine neue Breite. Der Außendurchmesser der MTB-Felge bzw. der Innendurchmesser des Reifens entspricht 27,5“ (auch 650B genannt): also 584 mm nach ETRTO-Maß (European Tyre an Rim Technical Organsiation). Allerdings sind Felge und Reifen breiter und dicker. Die jetzt auf den Markt kommenden Reifen für 27,5“+ haben eine Dimension von circa 3,0 Zoll. Die Felgen wachsen in der Breite um bis zu 80 Prozent auf etwa 40 bis 50 mm Außenmaß. Dadurch baut der Reifen noch einmal breiter und steht stabil im Felgenbett. Im Außendurchmesser erreichen Reifen mit 27,5“+ dann circa 735 mm – das wiederum entspricht ziemlich genau einem 29“-Reifen in 2,25 Zoll.

Kurzum: 27,5“+ baut genauso hoch wie aktuell 29“, aber viel breiter. Was den Namen angeht, ist sich die Industrie uneins, teils kursieren Fantasie-Begriffe wie Mid-Fat, Semi-Fat oder Sixty-Fat. Durchsetzen dürfte sich 27,5“+ oder kurz und knackig B+ als Abkürzung für 650B Plus.

Eines der ersten 27,5+ Bikes: Das Rocky Mountain Sherpa

3. Was soll 27,5“+ an Vorteilen bringen? Was sind die Nachteile?
Grundsätzlich bietet 27,5“+ ähnliche Vorteile wie 29“: Durch den großen Außendurchmesser ist der Aufprallwinkel auf Hindernisse flacher, der Reifen rollt entsprechend leichter „drüber“. Der entscheidende Benefit aber ist das große Volumen von 27,5“+. Das erlaubt, die Reifen wie beim Fatbike mit sehr geringem Luftdruck zu fahren: um 1 Bar dürfte möglich sein! Zusammen mit einer dafür optimierten Karkasse versprechen die Hersteller, dass sich der Reifen förmlich um den Untergrund „herum schmiegt“. Der Effekt wäre, dass Reifen in 27,5“+ zum einen viel mehr Grip aufbauen, zum anderen im Gelände sogar leichter rollen, da sie sich dem Untergrund schneller anpassen und dadurch weniger stark abgebremst werden. Messungen mit aktuellen MTB-Reifen mit wenig Luftdruck bestätigen diesen Effekt, allerdings wäre bei herkömmlichen 2,1“-2,4“-Reifen der Pannenschutz zu gering. Hier hilft erneut das große Luftvolumen von 27,5“+, durch das Durchschläge wie beim Fatbike sehr selten sein dürften. Apropos Fatbike: Dessen noch viel voluminöseren Reifen (bis 4,5“) neigen bei schneller Fahrt zum „Hüpfen“. Das soll mit 27,5“+ nicht vorkommen, zudem werden wohl die meisten Komplett-Bikes mit 27,5“+ entweder mit Federgabel oder als Fully auf den Markt kommen.

Die Nachteile von 27,5“+ liegen vor allem beim höheren Gewicht im Vergleich zu 27,5“ und 29“. Inwiefern das angesprochene „Bouncing“ ein Problem darstellt, können erst ausgiebige Testfahrten klären. Dasselbe gilt für den Pannenschutz. Wie schon bei der Einführung von 29“ und 27,5“ wird zudem die „Versorgungslage“ am Anfang bescheiden sein. Schließlich müssen sich interessierte Händler noch mehr Schläuche und Mäntel auf Lager legen als jetzt schon. Und die Unsicherheit bei den Verbrauchern dürfte ebenfalls weiter steigern.

4. Passt 27,5“+ in jedes aktuelle Bike mit 27,5“ oder 29“?
Antwort: nein und vielleicht. Im Prinzip passt ein Laufrad/Reifen mit 27,5“+ durch den identischen Reifenaußendurchmesser in ein aktuelles 29“-Bike, bei einem 27,5er ist hingegen zu wenig Platz – siehe Erklärung unter Punkt 2. Aber: Da die Reifen breiter bauen, dürfte bei den meisten 29er der Platz in der Breite nicht ausreichen. Ob an Kettenstrebe, Sitzstrebe, Umwerfer oder sogar Schuh – irgendwo wird es schleifen. Und als ob dies nicht genug wäre, kommt im Zuge von 27,5“+ noch ein weiterer Standard auf uns Biker zu: Boost. Boost wurde ursprünglich von Trek als breiterer Standard für die Hinterradachse entwickelt: Diese wächst von 142 x 12 mm auf 148 x 12 mm, also um 6 mm in die Breite. Das erlaubt, bei breiten Felgen die Speichen des Laufrads flacher anzustellen, die Seitensteifigkeit wächst – wichtig für die im Vergleich zu 26“ größeren Räder. Nun haben weitere Marken die Vorteile erkannt: Auch am Vorderrad kommt Boost, die Achse wächst von 100 x 15 mm auf 110 x 15 mm. Fox und Rock Shox haben bereits passende Gabeln vorgestellt.

Zum Einsatz wird Boost bei 27,5“+ kommen, aber auch bei 29“. Das Ganze wirft aber ein neues Problem auf: Die Kettenlinie wandert um 3 mm nach außen. Speziell bei 27,5“+ ist dies sogar gewünscht, um mehr Platz für die fetten Reifen zu bekommen, bei herkömmlichen Kurbeln kommt es aber zu Schaltproblemen. Die Lösung sind Kurbeln mit ebenfalls um 3 mm nach außen wanderden Kettenblättern. Shimano hat im Zuge der neuen XT-Gruppe bereits passende Kurbeln im Angebot, die den Zusatz „B“ tragen.

5. Wo soll 27,5“+ zum Einsatz kommen?
In diesen Tagen werden auf dem Sea Otter Festival in Kalifornien nicht nur die ersten Reifen, Laufräder und Federgabeln vorgestellt, sondern auch die ersten Komplett-Bikes mit 27,5“+. Und das sind vor allem drei Kategorien: Allround-Hardtails, Touren- und All-Mountains-Fullys. Oder kurzum: Trail-Bikes. Ziel ist also weniger der Rennfahrer – egal ob CC, Marathon, Enduro oder Downhill – sondern der „Normalo“ mit großer Trail-Vorliebe. Denn gerade auf Waldwegen aber auch im schroffen Gelände dürfte 27,5“+ seine Vorteile ausspielen, auf Asphalt und Schotter hingegen kaum. Vor allem Hardtails werden dadurch im Gelände vermutlich deutlich sicherer und einfacher zu fahren sein als jetzt.

Im CC/Marathon-Segment wird 27,5“+ keine Rolle spielen, bei Enduro/Freeride wartet die Industrie noch ab. Und ausgerechnet für die Fatbikes, ohne die es die Idee zu 27,5“+ wohl nie gegeben hätte, könnte 27,5“+ zwar nicht das Ende, aber ein zukünftiges Nischendasein bedeuten.

6. Das sagt die MountainBIKE-Redaktion zu 27,5“+
MountainBIKE-Testchef André Schmidt: „Grundsätzlich wird mir das Tempo der Mountainbike-Industrie unheimlich. Kurz nach 29“ und 27,5“ den nächsten Standard etablieren zu wollen, dürfte viele Kunden und Händler überfordern, im schlimmsten Fall frustrieren. Etwas mehr Ruhe würde der Branche gut tun!“ Dennoch sieht Schmidt für 27,5“+ eine Zukunft: „Speziell beim Hardtail, aber auch bei Fullys mit 120-140 mm macht 27,5“+ echt Spaß. Das haben unsere ersten Tests gezeigt. Und es rollt erstaunlich gut, Nachteile haben wir erst mal nicht gespürt. Für viele nicht so versierte Fahrer wird 27,5“+ ein echtes Sicherheitsplus bieten.“ Also wird sich 27,5“+ durchsetzen? „Das bleibt abzuwarten. Nehmen Handel und Kunden das neue Konzept an? Wird sich Boost als Standard durchsetzen? Die Vorteile lassen sich nicht wegdiskutieren, aber 27,5“+ wird für noch mehr Verunsicherung beim kaufwilligen Biker sorgen als jetzt schon besteht“, so der MountainBIKE-Testchef.

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Erscheinungsdatum 05.03.2024